Die Sache mit der Flächenbelastung

…aus flugpraktischer und aus aerodynamischer Sicht

Ich bin Pilotin, Fluglehrerin, Reisebegleiterin und seit Jahren begegnet mir immer wieder in Varianten folgende Szene: Kleine Pilotin unter großem Schirm am Startplatz: weggezerrt, ausgehebelt, wütend, hilflos, verunsichert.

Kleine Pilotin unter großem Schirm beim Fliegen: Zuschauer: »Oh, wie gut die steigt, dabei ist die Luft doch noch ganz ruhig” oder “Die kommt ja gar nicht mehr runter!«

In der Luft schaukelt es vor der Thermik erst mal kräftig hin und her bevor es – wenn überhaupt – rein geht in den Schlauch und dann fahren solche kleinen Piloten eher Aufzug als Thermik zu kreisen. Der Wind frischt auf und die Angst krabbelt diesen Pilotinnen in den Nacken (die oftmals nicht unberechtigt ist), nicht mehr bis zum Landeplatz zu kommen.

Und immer begleitet von diesem Gefühl geflogen zu werden, anstatt zu fliegen. Aus eigener Erfahrung kann ich sagen, Fluglust bringt das keine.

Gibt man diesen leichten Piloten oder Pilotinnen einen Schirm mit deutlich höherer Flächenbelastung (und die Klassifizierung ist auf einmal nicht mehr das wichtigste Entscheidungskriterium für einen Schirm) erledigen sich die meisten auch mental entstandenen Flugprobleme wie von Zauberhand fast von selbst.

Ich wünsche mir, dass dieses Problem noch mehr Fluglehrer, Hersteller und leichte Pilotinnen erkennen und reagieren. Vielleicht haben wir dann auch indirekt etwas für die höhere Frauenquote in unserem schönsten aller Sportarten getan.

Fläche und Geschwindigkeit

Es gibt einen direkten Zusammenhang zwischen Flächenbelastung und Geschwindigkeit. Dazu zunächst zur Erinnerung die zugehörige Formel aus der Aerodynamik:

Auftrieb = (projizierte Flügelfläche * Auftriebsbeiwert * Luftdichte * Geschwindigkeit im Quadrat) / 2.

Nehmen wir an, dass wir für ein fixes Fluggewicht einen bestimmten Auftriebswert benötigen, damit der Flügel samt Pilot in der Luft bleibt, dann ergibt sich daraus für eine fixe Fläche auch eine bestimmte Fluggeschwindigkeit:

Geschwindigkeit = Quadratwurzel aus (Auftrieb * 2) / (proj. Fläche * Auftriebsbeiwert * Luftdichte)

Vereinfacht: je kleiner die Flügelfläche, desto schneller fliegt es bei gleichem Auftrieb. Oder anders ausgedrückt: mit einer (zu) großen Fläche fliegt frau eben nur langsam.

Hinzu kommt, dass eine große Fläche beim Aufziehen viel Widerstand bietet, was für leichte Pilotinnen bei stärkerem Wind schnell zur großen Herausforderung wird.

Die Flächenbelastung, mathematisch ausgedrückt das Fluggewicht pro Fläche, ist damit ein guter Anhaltspunkt für eine vernünftige Flügelgröße:

Flächenbelastung = Fluggewicht / projizierte Flügel-Fläche

Gleiten und Steigen

Wir ersparen uns hier die zugehörigen physikalischen Grundlagen und kürzen ab: aus Auftriebs- und Widerstandsformel ergibt sich das Gleitverhältnis (»Gleitzahl«), das zunächst unabhängig von der Flächenbelastung (angehängtes Gewicht pro projizierte Fläche) zu sein scheint. Für große, starre Flächen und große Anhängelasten mag das in etwa stimmen. Bei Flügeln in unserer Größenordnung und vor allem bei flexiblen Flächen wie dem Gleitschirm, ist die Praxis etwas komplexer.

Skaliert man einen Flügel nach unten (verkleinert also bei gleicher Form, gleichem Profil und gleicher Trimmung die Fläche), erhöht sich der induzierte Widerstand überproportional, d.h. der Flügel gleitet schlechter, je kleiner er wird. Deshalb fliegen Wettkampfpiloten gerne größere Flächen mit schweren Gurtzeugen und nehmen gerne sogar noch extra Ballast mit.

Andererseits verschlechtert auch jede Deformation des Flügels die Performance, also sowohl Steigen, als auch Gleiten. Die Deformation gerade in bewegter Luft (wir fliegen fast immer in bewegter Luft) ist wiederum um so geringer, je größer die Flächenbelastung ist.

Unter dem Strich gleitet ein gut konstruierter Gleitschirm in der Praxis bei hoher Flächenbelastung immer besser, als bei geringer.

Ähnliches gilt auch für das Steigen. Rein theoretisch resultiert aus geringer Flächenbelastung auch geringes Sinken (verlorene Höhe pro Zeit), aber ein großer Flügel und geringe Flächenbelastung bedeutet eben auch viel Performance-Verlust durch Deformation und – das wird gerne markant unterschätzt – kleine Flächen sind viel wendiger, als große und deshalb viel besser in der Thermik zu zentrieren. In der Praxis überwiegen für die Performance also deutlich die Vorteile einer hohen Flächenbelastung.

Passive und aktive Sicherheit

Wie sieht es aber mit der Sicherheit aus? Grundsätzlich wächst die Bewegungsenergie im Quadrat mit der Geschwindigkeit, d.h. im Falle einer Störung am Flügel (Klapper) ist die Reaktion um so heftiger, je schneller man fliegt. Deshalb zeigen beschleunigte Klapper auch immer eine dynamischere Reaktion, als unbeschleunigte.

Aber: aus einer hohen Flächenbelastung (und damit höherer Geschwindigkeit) resultiert bei entsprechend ausgereifter Konstruktion auch eine markant bessere Flügelstabilität, d.h. der Flügel ist viel weniger anfällig auf Störungen – und Klapper öffnen meist sehr schnell wieder.

Und: auch an der Obergrenze des für die Musterprüfung gestesteten Gewichtsbereichs entsprechen alle Parameter und Reaktionen den geforderten Normen für die jeweilige Geräteklasse.

So viel zur so genannten passiven Sicherheit.

Mindestens genauso wichtig für die Flugpraxis ist aber die – nennen wir es mal so – aktive Sicherheit. Gemeint sind die Möglichkeiten, die das Fluggerät dem entsprechend mehr oder weniger erfahrenen Piloten zur Verfügung stellt, um in einem weiten Spektrum von Bedingungen sicher agieren zu können. Konkretes Beispiel: ein wendiger Flügel stellt beim Thermikkreisen oder beim geländenahen Fliegen eine hohe aktiver Sicherheit zur Verfügung, da man schnell und präzise auf Turbulenzen und andere Mitfliegen reagieren kann. Höhere Flächenbelastung bedeutet eben auch: der Flügel ist präziser zu steuern und er reagiert viel besser auf Pilotenaktionen.

Beim Start mit Wind macht sich hohe Flächenbelastung ebenfalls markant positiv bemerkbar, denn der Flügel ist viel sichere kontrollierbar, als gering beladen. Gerade dieser Aspekt wird bei der Sicherheitsdiskussion oft vernachlässigt, ist der Start doch im wahrsten Sinne des Wortes gleichzeitig erhebenster wie auch unfallträchtigster Moment beim Fliegen.

Auch gegen den Wind bietet eine hohe Flächenbelastung große Vorteile: je besser ich voran komme, sprich im Zweifelsfall zu einem sicheren Landeplatz oder weg aus der Turbulenzzone, desto sicherer bin ich unterwegs. Hier machen oft schon 2-4 km/h Geschwindigkeitsplus einen entscheidenden Unterschied zur großen Fläche.

Sicherheit hat also immer zwei Seiten: die eine ist die Reaktion des Flügels bei Störungen, die andere sind die Möglichkeiten, die der Flügel bietet, damit ich entspannt einen großen Aktionsspielraum habe, in dem der Flügel genau das tut, was ich will und das auch sofort.

Einstufung in Gewichtsbereiche

Grundsätzlich sollte man annehmen, man könne einen Flügel im ganzen angegebenen Gewichtsbereich fliegen. Klar, kann man (oder Frau) auch. Und nach EN / LTF Musterprüfung gilt ja die Klassifizierung auch von Minimal- bis Maximalgewicht.

Aber: die Klassifizierung sagt sehr wenig über die Flugeigenschaften in der Praxis, sie gibt lediglich Hinweise auf die Reaktionen des Flügels bei Störungen. Und: warum sollte ein Flügel auch einige Kilo schwerer beladen als an der angegebenen Obergrenze eine komplett andere Reaktion zeigen?

Jeder Hersteller möchte seine Flügel für das möglichst komplette Gewichtsspektrum von ganz leicht bis ganz schwer zur Verfügung stellen. Ergo baut er verschieden große Flügel von jedem Modell, teilt sie in Gewichtsbereiche ein und schickt sie dann zur Musterprüfung mit all ihren Tests. Heraus kommt die (meist) vom Hersteller sowieso schon angezielte Klassifizierung, d.h. eine grobe Orientierung, für wen der Flügel geeignet ist.

Mit den tatsächlichen Flugeigenschaften beim Thermikfliegen, beim Starkwindhandling am Start, mit Steig-Performance, dem Gleiten in bewegter Luft, der zur Verfügung gestellten aktiven Sicherheit und insgesamt mit der Flugfreude hat das sehr wenig zu tun.

Viele Hersteller geben inzwischen schon sog. erweiterten Gewichtsbereiche an. Damit kommunizieren sie: man kann diese Flügel auch ohne weiteres mit höherer Flächenbelastung fliegen.

Nebenbei: Warum sollte das nur für die Flügel gelten, bei denen es der Hersteller explizit angibt?

Konstruktionskonzepte und Zulassungs-Dilemma

Warum also bauen nicht alle Hersteller grundsätzlich Flügel für hohe Flächenbelastungen, also eher kleine Flächen im Verhältnis zum zugelassenen Gewichtsbereich?

Zum einen ist es einfacher, größere Flächen mit positiven Ergebnissen durch die Musterprüfung zu bringen, denn kleine Flügel sind wendiger als große und entsprechend reagieren die kleinen auch aprupter auf Störungen. Zum anderen kursiert immer noch die aus alten Tagen stammende Meinung, dass größere Flächen besser steigen, als kleinere. Ach ja, und der Durchschnittskunde ist männlich und bringt auch ein paar Kilo auf die Waage.

Für die ganz kleinen Flächen gibt es aber noch ein ganz anderes Problem: Bei der Musterprüfung müssen sie ja im angegebenen Gewichtsbereich testgeflogen werden. Es gibt aber leider nur sehr, sehr wenige Testpiloten mit Pilotengewicht um oder gar unter 50 kg …

Flächenbelastung im Größenvergleich

Vergleicht man die Flächenbelastungen gleicher Gleitschirmtypen unterschiedlicher Größe miteinander, haben die kleinen Größen mit sehr wenigen Ausnahmen durchweg niedrigere Flächenbelastungen, als die großen.

Teilweise beträgt der Unterschied mehr als 25% ! So haben größere Flügel durchweg Flächenbelastungen zwischen 4,2 kg/m2 und 4,8 kg/m2 , die kleinen Flügel für die Gewichtsbereiche bis 75 kg oder darunter dagegen nur Werte zwischen 3,2 kg/m2 und 3,8 kg/m2 jeweils bei Fluggewicht im mittleren bis oberen zugelassenen Bereich! Im unteren Gewichtsbereich sind das bei den kleinen Flügeln sogar oft nur 2,6 bis 3 kg/m2, bei den großen immerhin durchweg über 3,5 kg/m2!

Wir haben beim Vergleich verschiedener Flügel unterschiedlicher Hersteller nur ganz wenige kleine Flächen gefunden, die für leichte Pilotinnen (>55kg) im zugelassenen Gewichtsbereich vernünftige Flächenbelastungen haben. Aber immerhin, es gibt sie inzwischen.

Fazit

Eine große Flächenbelastung bietet gegenüber einer geringeren unter dem Strich mehr Vor- als Nachteile. Dies gilt insbesondere für kleine Flächen!

Leichte Pilotinnen und Piloten sollten deshalb ihre Flügel unbedingt an der Obergrenze oder im erweiterten Gewichtsbereich fliegen. Entscheidender, als der vom Hersteller angegebene Gewichtsbereich ist die projizierte Fläche und damit die resultierende Flächenbelastung. Da gibt es große Unterschiede für denselben Gewichtsbereich! Eine kleine Fläche hat für leichte Piloten immer Vorteile. Achtet also bei der Auswahl eures Flügels nicht nur auf die Gewichtsgrenzen, sondern auch auf die Flächenbelastung bei eurem konkreten Fluggewicht. Sie sollte 4 kg/m2 nur im Ausnahmefall unterschreiten. Gerne beraten wir euch, den passenden Flügel zu finden.

Gleitschirme mit guter Performance für leichte Pilotinnen und Piloten zu bauen, ist eine Herausforderung für die Hersteller. Manche, wie z.B. AirDesign oder Bruce Goldsmith Design, setzen bei den kleinen Flächen auf eine eigene Konstruktion bzw. Trimmung. D.h. diese Flügel sind nicht einfach skaliert, sondern extra berechnet. Und das macht sich markant an der Flugfreude bemerkbar!

( Jutta, www.gemeinsam-fliegen.de )

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